Berlin. Über die Awaren, ein frühmittelalterliches Steppenvolk, war bisher wenig bekannt. Neue Funde geben Aufschluss über ihr Sexualleben.

Die Byzantiner fürchteten sie und Karl der Große erklärte ihnen den Krieg. Dennoch sind viele Fragen zur Geschichte der Awaren bis heute ungeklärt. Als gesichert gilt, dass sie im 6. Jahrhundert aus Zentralasien einwanderten und um 800 n. Chr. von den Franken verdrängt wurden. Diese Erkenntnisse konnten Archäologen aus awarischen Gräbern und schriftlichen Überlieferungen der damaligen Nachbarvölker rekonstruieren. Die genaue Herkunft der Awaren bleibt jedoch sowohl für die antiken Schriftgelehrten als auch für die heutigen Historiker ein ungelöstes Rätsel.

DNA-Analyse: Forscher rekonstruieren Stammbäume der Awaren

Ein Forscherteam um Guido Alberto Gnecchi-Ruscone vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist den offenen Fragen nachgegangen. Mit einer Kombination aus genetischen, archäologischen, anthropologischen und historischen Forschungsmethoden versuchten sie, neue Erkenntnisse über die Awaren zu gewinnen.

Unter anderem führten sie DNA-Analysen an menschlichen Überresten und Grabbeigaben aus vier vollständig ausgegrabenen Awarenfriedhöfen im heutigen Ungarn durch. Anhand dieser Analysen rekonstruierten sie die Familienverhältnisse der Bestatteten und erstellten umfangreiche Stammbäume.

Dieses Awaren-Begräbnis eines Mannes mit seinem Pferd wird auf das 8. Jahrhundert datiert. Der Tote gehörte zu einem untersuchten Stammbäume.
Dieses Awaren-Begräbnis eines Mannes mit seinem Pferd wird auf das 8. Jahrhundert datiert. Der Tote gehörte zu einem untersuchten Stammbäume. © Institute of Archaeological Sciences, Eötvös Loránd University Múzeum, Budapest, Hungary

Die Ergebnisse zeigten, dass die 424 Bestatteten insgesamt 31 verschiedenen Familien angehörten. Viele der Bestatteten waren jedoch miteinander verwandt. So sollen 298 Awaren mindestens einen nahen Verwandten auf demselben Friedhof haben. Der größte Stammbaum umfasste 146 Personen über neun Generationen.

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Awaren hatten mehrere Sexualpartner auf einmal

Wie lässt sich der weit verzweigte Stammbaum erklären? Aus den Verwandtschaftsbeziehungen schlossen die Forscher, dass die Awaren ihre Gemeinschaften nach bestimmten Heiratsregeln aufbauten: Die Männer blieben in der Gemeinschaft, während die Frauen nach der Heirat in die Gemeinschaft ihres Mannes wechselten. Dies führte dazu, dass Männer häufig Kinder mit verschiedenen Frauen hatten und Frauen wiederum Kinder mit verschiedenen Männern, einschließlich enger männlicher Verwandter wie Brüder oder Väter und Söhne. Diese Heiratsmuster stärkten die Bindungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften und förderten den sozialen Zusammenhalt, so die Forscher.

Guido Alberto Gnecchi-Ruscone, der Hauptautor der Studie, betont, dass die Heiratsmuster und das Fehlen genetischer Verwandtschaft auch darauf hindeuten, dass die awarische Gesellschaft „eine detaillierte Vorstellung davon hatte, wer ihre Vorfahren und wer über Generationen hinweg ihre biologischen Verwandten waren“. Mit der einheimischen Bevölkerung Europas hingegen vermischten sich die Awaren nur wenig.

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An einer der untersuchten Fundstellen konnten die Wissenschaftler anhand der Verwandtschaftsverhältnisse nachvollziehen, wie Ende des siebten Jahrhunderts drei Großfamilien zehn kleinere Familien verdrängten. Laut Gnecchi-Ruscone deutet dies auf eine Machtverschiebung in der Region hin, die wahrscheinlich durch eine Ernährungsumstellung von Hirse auf Fleisch und Milchprodukte beeinflusst wurde, wie Isotopenanalysen zeigen.

Die Studie ist Teil des wissenschaftlichen Großprojekts HistoGenes, das die Bevölkerungsgeschichte des östlichen Mitteleuropa von 400 bis 900 n. Chr. untersucht. Die Ergebnisse wurden in der renommierten Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.