Hamburg. Viele Menschen geraten unverschuldet in finanzielle Not. Wie man da wieder rauskommt : Im neuen Himmel & Elbe.

Wer in Hamburg auf Wohnungssuche ist, lernt schnell, dass es von Vorteil ist alle Unterlagen zur Besichtigung parat zu haben: Verdienstbescheinigung, Schufa-Auskunft und eine Bescheinigung über Mietschuldenfreiheit. Die Offenlegung der persönlichen Finanzlage und der Passus in der Selbstauskunft, der versichert, dass keine Insolvenz- oder Vergleichsverfahren laufen oder ein Offenbarungseid über Vermögensverhältnisse abgelegt wurde, sollen ein verlässliches Mietverhältnis verbürgen.

Der Vermieter will wissen mit wem er es zu tun hat. „Wir schaffen Vertrauen“ heißt der Slogan der Schufa, deren Bonitäts-Auskunft den Mietinteressenten zum seriösen Vertragspartner macht. Wer einen negativen Eintrag hat, hat es schwer – nicht nur auf dem Hamburger Wohnungsmarkt. Gut 6,92 Millionen Menschen sind in Deutschland überschuldet.

Vertrauen, Schuld und Scham sind eng miteinander verknüpft

Die Gründe, aus denen Menschen Schulden aufnehmen, sind vielfältig. Ebenso die Wege in die Überschuldung. Zunächst setzt jeder gewährte Kredit, jedes Tauschgeschäft, Vertrauen voraus. Der Kreditgeber vertraut darauf, dass die Schulden einmal beglichen werden. Es ist eine Art Vertrauensvorschuss, der dem Schuldner entgegengebracht wird.

Wer misstraut, verleiht nicht. Und wer nicht zurückzahlen kann, bricht nicht nur einen Vertrag, sondern auch Vertrauen. Der Vertrauensaspekt passt jedoch nicht so richtig in die rationale Geschäfts- und Finanzwelt. Und weil Kontrolle besser ist, gibt es Instrumente wie Bürgschaften oder Schuldscheine, die den Kreditgeber absichern.

„Schulden“ ist sprachlich eng mit „Schuld“ verknüpft, samt dessen negativen Beigeschmacks. Das ist eine Besonderheit der deutschen Sprache. Im Englischen oder Französischen wird sprachlich klar zwischen „Schulden“ (debt/dette) und „Schuld“ (guilt/culpabilité) unterschieden. Die Nähe zum Schuldbegriff öffnet sofort eine religiöse Dimension.

Doch nicht nur diese sprachliche Verwandtschaft und der Vertrauensbegriff deuten auf einen bewussten Bezug zur Sprache des Glaubens hin. Der religiöse Gehalt im Schuldenwesen steckt beispielsweise auch in der Bezeichnung eines Kreditgebers als „Gläubiger“ oder eines Schuldners als „kreditwürdig“.

Es gibt viele Hemmschwellen, Hilfsangebote wahrzunehmen

„Schuld“ ist ein schillernder Begriff. Er kann sich auf Finanzen, Recht und moralisches Verhalten beziehen. Diese Vieldeutigkeit lässt nach dem evangelischen Theologen und Ethiker Friedrich Wilhelm Graf erkennen, „dass es zwischen den religiösen Gehalten des Begriffs und dem ökonomischen, rechtlichen und ethischen Sprachgebrauch auch Zusammenhänge gibt. In allen drei Dimensionen … muss man seine Schuld sich selbst eingestehen und gegenüber anderen bekennen, will man überhaupt als seriös anerkannt werden.“

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Sich einzugestehen den eignen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten zu können, betrifft nicht nur das Verhältnis zu anderen, sondern vor allem das Verhältnis zu sich selbst. Es gibt viele Hemmschwellen Hilfsangebote wahrzunehmen. Die können persönlicher, kultureller oder struktureller Art sein. Scham ist eine davon. Schätzungen zufolge suchen nur zehn Prozent der Überschuldeten Hilfe bei einer Beratungsstelle und das erst spät.

Die Schuldenberge des deutschen Staats sind sehr abstrakt

Wenn Olaf Scholz dieser Tage vor laufendenden Kameras eine milliardenschwere Neuverschuldung im Bundeshaushalt ankündigt, verlangt das zwar allen viel Vertrauen ab, dass sich das einmal im wahrsten Sinne des Wortes auszahlen wird. Aber die Schamesröte angesichts solcher Schuldenberge treibt es keinem ins Gesicht.

Die abstrakt großen Summen und die fiktionalen Tauschgüter mit denen auf den globalen Finanzmärkten jongliert wird, verhindern jeglichen persönlichen Bezug zu aufgenommenen Schulden. Das Gefühl gleicht eher dem Hin- und Herschieben von Spielsteinen auf dem Monopoly-Brett. Wer gewinnt entscheidet sich im Spielverlauf.

Anders geht es Menschen, die eine Schuldnerberatung aufsuchen. Wer fällige Rechnungen nicht mehr zahlen und Raten nicht mehr tilgen kann, steckt in einer akuten persönlichen Krise. Wer dann seine finanzielle Situation Ämtern und Beratungsstellen offenlegt, macht sich umgangssprachlich „nackig“. Häufig reicht die Last der Schulden auch in das Innenleben hinein. Ängste, Selbstvorwürfe oder Scham können Begleiter sein. Der vermeintlich abwertende Blick der anderen auf die eigene Schuldenlast, führt zur Selbstmissbilligung.

Die Überschuldung ist meistens durch äußere Umstände verursacht

Doch finanzielle Notlagen von Privatpersonen sind selten „selbstverschuldet“. Blickt man auf die häufigsten Gründe für eine Überschuldung, wird schnell deutlich, dass äußere Umstände und meistens mehrere Faktoren beteiligt sind. Es sind vor allem Arbeitslosigkeit, Einkommensarmut und Krankheit, die in die Überschuldung führen. Danach kommen Trennung und Scheidung und gescheiterte Selbstständigkeit. Das eigene Handeln, wie zum Beispiel das Konsumverhalten, ist nur bei etwa einem Fünftel der überschuldeten Menschen der Auslöser für ihre Notlage.

Scham ist wie Schuld eine religiös besetzte Kategorie. Aus dem Paradies wurde der Mensch – so die biblische Schöpfungserzählung - nicht aufgrund einer Schuld geworfen, sondern auch mit Scham. Wer rücksichtslos und ohne Schuldbewusstsein den eigenen Vorteil sucht, gilt als „unverschämt“. Aus den Schulden führt ein guter Finanzplan oder die private Insolvenz. Aus der Scham führt der gnädige Blick – auf sich und auf andere.

Früher wurden Kinder verpfändet, um leben zu können

Die Erfahrung, bei jemanden in der Schuld zu stehen, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. In der agrarischen Welt und vom Handel geprägten Welt des Alten Testaments begegnen verschiedene Gründe dafür, sich zu verschulden. Kredite wurden aufgenommen, um Unternehmensvorhaben wie eine See-Expedition zu finanzieren oder Karawanen mit Waren zum Verkauf oder Tausch auszurüsten. Der Zins war im Alten Orient besonders hoch. Er betrug durchschnittlich 20 bis 40 Prozent.

Häufiger als solche Handelskredite waren Notkredite. Eine Notlage, die zu einem Mangel an Geld oder Gütern führte, konnte durch persönliche Schicksale wie Todesfälle in der Familie oder Krankheit verursacht sein. Aber auch Dürren, Erdbeben oder Krieg führten dazu, dass Notkredite aufgenommen wurden. Ähnlich wie heute waren die Anlässe vergleichsweise selten selbstverschuldet. Als Sicherheiten für Kredite dienten Pfandannahmen. So zu lesen beim Propheten Nehemia: „Wir müssen unsere Söhne und Töchter verpfänden, um Getreide zu bekommen, damit wir zu essen haben und leben können. Wir müssen unsere Felder, Weinberge und Häuser verpfänden, um in der Hungerzeit Getreide zu bekommen.“ (Neh 5,2f)

Historische Zeichnung von einem Geldverleiher und Wucherer im 16. Jahrhundert.
Historische Zeichnung von einem Geldverleiher und Wucherer im 16. Jahrhundert. © picture alliance / imageBROKER | dpa Picture-Alliance / H.-D. Falkenstein

Auch Bürgschaften konnten als Sicherheit dienen. Die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die durch Notkredite entstanden, waren nicht selten mit einer unmittelbaren Gefährdung der Existenz verbunden. Rücksichtslose Pfändung und auch der Verkauf der eigenen Familie in die Schuldknechtschaft waren üblich. Beim Propheten Amos ist zu lesen, dass dauerhafte Verschuldung sogar beabsichtigt war, um über die Schuldner verfügen zu können. Sie wurden ausgebeutet, „damit wir die Armen um Geld und die Geringen um ein paar Schuhe in unsere Gewalt bringen können.“ (Am 8,6)

Früher gab es alle sieben Jahre ein Erlassjahr

Der Alttestamentler Rainer Kessler spricht von Verschuldung als „Kernproblem antiker bäuerlicher Gesellschaften.“ Denn „Verschuldung, die sich zur massenhaften Überschuldung auswächst, kann die Grundlagen der Gesellschaft zerstören.“ Daher finden sich bereits in den frühen Schriften der Bibel Rechtssätze, um das zu verhindern. Die ältesten Rechtssätze stammen aus dem 8. Jhd. v. Chr. Einschränkungen bei der Pfandnahme werden benannt und besonders häufig das Verbot, Zinsen zu nehmen: „Wenn du Geld leihst … dem Elenden bei dir, sollst du ihm nicht wie ein Gläubiger sein“ (Ex 22,24).

Noch weiter geht die Forderung des „Erlassjahres“, das in jedem siebten Jahr eintrat. Dabei handelte es sich zunächst um eine Ackerbrache, die dann zu einem allgemeinen Schuldenerlass ausgeweitet wird: „Jeder Gläubiger soll den Teil seines Vermögens, dem er einem anderen unter Personalhaftung als Darlehn gegeben hat, brachliegen lassen.“ (Dtn 15,2) Schulden werden erlassen und Schuld nicht mehr angerechnet. Der Lohn, der dem Gläubiger für einen solchen Akt der Nächstenliebe in Aussicht gestellt wird, ist der Segen Gottes.

Die Rechtssätze der Bibel drängen darauf, dass Hilfe nicht verwehrt werden darf, dass dem Armen geliehen werden soll „was der Not, die ihn bedrückt, abhilft“. Auch dann, wenn ein Erlassjahr kurz bevor steht und absehbar ist, dass die Schulden bis dahin nicht getilgt sein werden. Jesus von Nazaret knüpft in seiner Zeit mit einem Wort daran an: „Tut Gutes und leiht, wo ihr nichts zu erwarten habt.“ (Lk 6,35). Eine Haltung, die mit einem klugen Finanzwesen unvereinbar ist. Und genau das macht sie so eindrücklich. Hier wird nicht nur eine Schuld aus lauter Gnade erlassen. Sie baut sich gar nicht erst auf. Vertrags- und Vertrauensbruch sind gar nicht möglich.

Entlastung des Schuldners im Vaterunser oder durch edle Gläubiger

Erlassene Schulden und finanzielle Zuwendungen brauchen Menschen auch heute. In einer Konsumgesellschaft wie unserer ist Verschuldung und die Aufnahme von Konsumkrediten Alltag. Sie kann sogar die gesamtwirtschaftliche Lage – und damit unser Gesellschaftsgefüge – stabilisieren. Brenzlig wird es erst, wenn die Raten nicht mehr beglichen werden können. Zudem kann Überschuldung auch in eine psychosoziale Notlage führen. In welcher Form und in welchem Ausmaß dies geschieht, hängt von den individuellen Lebenswegen und Geschichten der Menschen ab. Von Schulden befreit zu sein, beispielsweise nach einer privaten Insolvenz, entlastet und erleichtert.

Um Entlastung von Schuld geht es auch im Vaterunser. Das Gebet, das Jesus selbst gesprochen und gelehrt hat und das zum wichtigsten Gebet des Christentums geworden ist. Mit den Worten, die das Matthäusevangelium Jesus in den Mund legt, wenden sich bis heute Christinnen und Christen an Gott: „Vergib uns unsere Schuld.“ Es ist eine Bitte ums Vergeben und Vergessen und die Vorstellung, dass eine Schuld gegenüber Gott wie eine Geldschuld abtragen werden kann. Denn sie belastet die Gottesbeziehung. Im Kontext von Insolvenz- und Schuldnerberatung ist die Verquickung der ökonomischen und moralischen Dimension wenig hilfreich. In der Schuldnerberatung spricht man daher lieber von „Forderungen“ anstatt von „Schuld“.

In der Bibelgeschichte von Lukas wird Schuld gegen Sünde getauscht

Die christliche Tradition hat die Bedeutungsvielfalt von „Schuld“ wesentlich geprägt. Dafür ist das Vaterunser beispielhaft. Eine Variante des Gebets im Lukasevangelium betont die sittlich-moralische Komponente. Bei Lukas wird nicht um Vergebung der Schuld, sondern der Sünden gebeten. Er tauscht Schuld gegen Sünde aus. Hier klingt bereits an, was im Verlauf der Geschichte und Theologie des Christentums zur Sündenlehre ausgeformt wird. Die Lehre vom Menschen, der als notorischer Sünder mit Haut und Haaren hineingezogen ist in die Niederungen der Welt – unfähig sich aus eigener Kraft zu befreien. Ein solch unmündiges Menschenbild ist mit der Aufklärung in Ungnade gefallen.

Es kann belasten wie ein Schuldenberg. Aber es trägt dem Umstand Rechnung, dass Menschen in ihren Lebensvollzügen in schuldhafte Verhältnisse verstrickt sind – auch ohne es zu wollen – und dass sie darauf angewiesen sind, dass Fehlverhalten verziehen und Schuld erlassen wird. Entschuldung, Vergebung, Versöhnung, Wiedergutmachung gehören zur christlichen Religion wie zu unserem Leben. Bereits das Sprechen eines Gebets kann entlasten und auch eine wohlwollende Haltung gegenüber anderen. Im Vaterunser folgt der Bitte um Vergebung eine Zusage: „auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Einem Leben in Angst und Existenznot muss man sich nicht ergeben.

Weder Schuldner noch Gläubiger. Es gibt Hilfestellungen und Hilfsbereitschaft. Von einer solidarischen und unkonventionellen Haltung war in diesem Jahr einiges zu spüren – durch gestundete oder erlassene Mietzahlungen gegenüber Gastronomie- oder Ladenbetreibern, durch Soforthilfen für Solo-Selbstständige und Unternehmen oder den Verzicht auf Erstattung von Eintrittsgeldern abgesagter Veranstaltungen. Strahlkraft hat, wo die Pfade vermeintlich kluger Finanzstrategien verlassen werden, wo Vertrauen nicht beim Geld endet und aus Notlagen befreit wird.